Fratze - Am Anfang war der Irrtum

Fratze – Am Anfang war der Irrtum

Bleeding Heart Nihilist Productions
2020

Liest man sich die Promo-Informationen zu „Am Anfang war der Irrtum“ auf der Homepage des Labels durch, muss man dann und wann die Stirn doch etwas runzeln, zu kryptisch, verschwurbelt und pseudointellektuell mutet der Text an. Die vorliegende Scheibe soll ein Konzeptalbum sein und befasst sich inhaltlich mit der Fratze als verzerrte Ausformung des Ausdrucks, der Maskierung dieser verzerrten Fratzen als allegorisches Verbergen dieser Fratzen und schlussendlich also der Sichtbarkeit und Verborgenheit von Realität und Wahrheit. Glaube ich zumindest, wenn ich den Text so lese. Klingt aber trotzdem recht spannend und macht Lust auf mehr. Dagegen liest sich der folgende Absatz schon weniger verheißungsvoll: „Konventionelle Hörgewohnheiten werden konsequent ignoriert und negiert, was sich sowohl in der teilweise krassen Heterogenität der einzelnen Stücke niederschlägt, als auch generell in der Art der Komposition, welche selten die antrainierten Erwartungen an handelsübliche Popularmusik selbst extremer Gattungen befriedigen wird.“

Das skeptische Kritikerherz liest in solchen Zeilen dagegen eher deutliche Hinweise auf inkonsistentes Songwriting sowie schlechte Produktion. Wollen mal sehen, was das wird. Entsprechend muss diese Rezension ein wenig länger ausfallen. Es wäre nämlich zu einfach, den Promo-Text als irrelevantes Geschreibsel abzutun und „Am Anfang war der Irrtum“ als unzusammenhängendes, musikalisch minderwertiges Geklimper zu brandmarken. Dazu ist das Ganze dann doch zu spannend. Dennoch hat das Album einige Probleme, die der Promo-Text schon gewissermaßen vorweggreift: Man wolle sich ja von Hörkonventionen lösen. Entsprechend bin ich zwiegespalten: Denn ein solcher Anspruch sollte ja irgendwo auch dem Hörer verständlich gemacht werden, um nicht einfach nur seltsame Musik um des Seltsamen selbst zu machen. Eine ausführlichere Betrachtung der Scheibe gibt hier vielleicht mehr Aufschluss.

Der erste Song „Zecke beißt Auge“ fungiert als Intro oder Präludium; atmosphärisch, repetitiv klimpernde Akustikgitarren und Synthies, krude Percussions und dazu hypnotischer Sprechsingsang, der auch inhaltlich die Hörer auf die nächsten gut 40 Minuten einstimmen soll. Und dabei wenig tonstabil ist. Uns wird der Irrtum als solcher gewissermaßen als eine Art Ursünde und Grundkonstante der Welt nahegebracht. Klingt krude, ist auch ein wenig unsauber und nicht sehr timingsicher aufgenommen. Die Stirn runzelt sich, zumal die Texte sich auch eher wie krudes Drogenfiebertraumgeschreibsel lesen. Das kann man toll finden. Wirklich etwas hängen bleibt davon aber auch nach mehrmaligen Hören nicht.

„Koboldtier“ als zweiter Track beginnt dagegen mit düsteren, neofolkigen Akustikgitarren mit ganz viel Atmosphäre. Dazu gesellen sich seltsame, fremdkörperartige Percussions, die teils nach billigem Drumcomputer, teils nach irgendetwas anderem klingen. Eigentümlich, aber gerade dadurch interessant. Bis der Gesang einsetzt, der ist nämlich Mist; so aus handwerklicher Perspektive. Da singt jemand offensichtlich nicht in seiner Stimmlage, trifft wenig Töne, hat noch weniger Stimmvolumen und versucht das durch pseudosakrale, pseudoopernmäßige Intonation auszugleichen. Der dadurch implizierte emotionale Tiefgang bleibt da eher aus und wirkt vielmehr nach gewollt und nicht gekonnt. Schade, denn „Koboldtier“ baut sich auf instrumentaler Ebene immer weiter in noisig verzerrte Gefilde auf, ohne dabei aber die anfängliche Neofolk-Atmosphäre aufzugeben. Ein paar mehr Ideen (und Minuten) ohne Gesang, und „Koboldtier“ wäre richtig gut geworden.

Stattdessen geht es gleich weiter zu „I’m a Jellyfisch“, das gleich auf zwei Tracks verteilt ist. Wieder atmosphärische Neofolk-Klampfen, mallet-artige Sounds und interessante Percussions. Wieder eher ruhig und entspannt vorgetragen, fließend und ein wenig dahinplätschernd. Der Gesang ist immer noch nicht besser. Denn nur weil man tonlose Monotonie rüberbringen möchte, sollte man trotzdem nicht darauf verzichten, wenigstens hin und wieder mal einen Ton zu treffen, konventionelle Hörgewohnheiten meinerseits hin oder her. Dazu kommen die nicht wirklich gelungene Mischung von englischen und deutschen Texten und die doch recht akzentbehaftete Aussprache der englischen Sprache. Doch auch der Jellyfish-Zweiteiler kann mit Atmosphäre punkten. Dissonante Synthies schweben über delay-verhangenen Gitarren und einem treibenden Drumcomputer. Hin und wieder blitzen kurze Motive auf und verschwinden wieder, nur um dann und wann wieder hervorzulugen. Das macht schon Spaß zum Entdecken, zumal sich der Song mehr Zeit lässt und seinen Elementen mehr Platz gibt, um sie zu erkunden.

„Fly Sucks Heart Dry“ markiert dann einen musikalischen Bruch – war ja auch so angekündigt. Verzerrte Schreie, verzerrte Gitarren, verzerrte Percussion. Noise, industrielle Sounds, Reizüberflutung. Dazu leider untightes Riffing an den Gitarren. Das unsaubere Spiel und die diffusen Klänge bewirken dabei leider, dass der Song eher vor sich hin stolpert als dass er vorwärtskommt. Die Gitarrenriffs und Solo-Einlagen wirken ein bisschen so, als hätte man 08/15-Standardriffs etwas schief auf einer mäßig gestimmten Gitarre eingespielt. Sounds und Songstruktur sind völlig diffus, denn auch wenn es unterschiedliche Parts gibt, die einander abwechseln, unterlässt es der Song, seinem Hörer mitzuteilen, warum denn auf einmal welcher Part wann kommen will. Alles passiert nur um des Seltsamen und Kruden willen. Und das ist für meine Begriffe ein bisschen wenig. Oder ich hab’s nicht verstanden, kann ja natürlich auch sein.

„Aasgesicht“ schließt sich dieser verzerrten Kakophonie an, ruht sich aber ebenso auf selbiger aus, setzt wenig neue Akzente und hinterlässt einen eher unbefriedigenden Geschmack auf der Zunge.

„Vielfüßiger Sonnenfresser“ ist besser. Neofolk, Synthesizer-Blechbläser, schwerfällig vorwärts treibende Percussions, Streicher und vor allem passender Gesang. Langsam schwerfällige Passagen liegen dem Herrn dabei deutlich besser als rhythmisch treibendere Parts, letztere sind immer noch unsauber aufgenommen, diffus und wenig ansprechend. Der Sonnenfresser hat dabei wesentlich organischere Gitarrenriffs, die sich entwickeln, mäandern und die geschaffene Klanglandschaft erkunden. Hooklines entstehen und zerfallen, die gesetzten Breaks passieren nicht mehr nur um ihrer selbst willen. Geht doch!

„Flötenspiel vs. Mauerstein“ ist zunächst ein Feature von Flöte und Krach, aus dem sich langsam eine Melodie entwickelt. Die ist sehr dudelig und schief. Dazu rumpeln wieder Percussions, und wieder leiert ein tonloser und uninspirierter Gesang. Sounds und Arrangement des Stücks sind zwar stimmiger und interagieren mehr miteinander. Dennoch findet der Song keinen Punkt, keine Pointe. Er beginnt einfach irgendwann und hört irgendwann auf. Danach noch ein Klimper-Outro und Schluss.

Entsprechend zwiegespalten bin ich. Ich mag die grundsätzlichen Ideen dieser Scheibe. Ich finde das inhaltliche Konzept toll. Ich mag die Art der Texte, die Atmosphäre, welche die Stücke zu kreieren versuchen. Aber hier hat alles nicht so wirklich was miteinander zu tun. Alles wirkt etwas halbgar, nicht zu Ende gedacht, nicht unkonventionell, weil sich daraus spannende Ideen ergeben, sondern unkonventionell, damit es unkonventionell ist. Hier hätten ein wenig Schliff und ein wenig Anpassung an die im Promo-Text so verbrämten konventionellen Hörgewohnheiten der ganzen Sache gut getan. Das hier ist kein Album, es ist eine Ideensammlung auf Demo-Level. Denn zum Spiel mit Hörgewohnheiten und Konventionen gehört eben auch, dass man dem Hörer plausibel vermitteln kann, dass man die Regeln beherrscht und absichtlich bricht. Dass man absichtlich vom normalen Weg abweicht und dass man den Hörer an dieser Reise abseits des Gewöhnlichen teilhaben lässt. Diesen muss man manchmal auffangen, los- und alleine für sich lassen. Dieses Spiel beherrscht Fratze nicht sehr gut. Und das wirkt leider oft eben wie gewollt, aber nicht gekonnt. Und das ist es, was dieser Scheibe trotz aller guten Ideen, Sympathien und Atmosphäre irgendwo zwischen Neofolk, Wave und Industrial auf Albumlänge den Hals bricht. Unerschrockene und Neugierige, stets das Neue Suchende sollten hier aber auf jeden Fall reinhören und sich selbst eine Meinung dazu bilden.

Tracklist
1. Zecke beißt Auge
2. Koboldtier
3. I’m a Jellyfish
4. I’m a Jellyfish – Part 2
5. Fly Sucks Heart Dry
6. Aasgesicht
7. Vielfüßiger Sonnenfresser
8. Flötenspiel vs. Mauerstein
9. Praying Pontifex – Endgame

Geschrieben von Jonas am 11. Februar 2021