Holy Dragons - Jörmungandr - The Serpent of the World

Holy Dragons – Jörmungandr – The Serpent of the World

Pitch Black Records
2022

Lust auf Heavy Metal? Diese Frage mutet in der Tat seltsam an. Sie wird aber verständlicher, wenn wir uns vor Augen führen, dass das vorliegende Album Schwermetall im lupenreinen Old-School-Gewand präsentiert. Konkreter: Traditionskost, die vollständig in NWOBHM verwurzelt ist. Anknüpfungen an Strömungen der harten Musik fehlen also auf „Jörmungandr – The Serpent of the World“ gänzlich. So ist die vorliegende Klangkunst auch weit entfernt vom Black Metal und verwandten Subgenres, die zum favorisierten Beuteschema vieler auf den Schattenpfaden wandelnden Menschen gehören. Auch die an der Edda orientierten Texte werden vielleicht für so manchen paganen Extrem-Metaller als Argument für eine Auseinandersetzung mit dem Album nicht ausreichen. Gleichwohl gilt doch aber auch, dass viele von uns in einem weitreichenden metallischen Kosmos unterwegs sind, in dem etwa Darkthrone, Naglfar und Alastor in friedlicher Eintracht mit Judas Priest, Angel Witch oder Ram leben. Und da es letztlich die Leidenschaft der musikalischen Akteure ist, die uns Metalheads jeglicher Schattierungen eint, kann es kaum noch eine Ausrede dafür geben, dem vorliegenden Werk der Holy Dragons nicht ein ganz und gar aufgeschlossenes Ohr zu schenken. Denn eines bläst die Band wahrlich mit jedem Gitarrenakkord, Trommelschlag oder Schrei auf besonders eindringliche Weise aus den Boxen: Ungezügelte Leidenschaft.

Bevor wir uns dem musikalischen, auf dem Album gezündeten Feuerwerk nähern, gilt es sich tief zu verneigen: Vor sage und schreibe drei Dekaden erblickte das Quartett in Kasachstan das Licht der Welt. Dieses freudige Ereignis kann schon eine gewisse Fassungslosigkeit hervorrufen, da es wohl auf ewig ein Rätsel bleiben wird, wie wenig eine so versierte Band mit herausragendem Talent für Songwriting von der deutschen Metal-Gemeinde wahrgenommen wird. Das gilt es zu ändern, weshalb ich nun um Nachsehen wegen meines missionarischen Eifers bitte. Zur Diskographie der Holy Dragons gilt es anzumerken, dass schon einiges an Zeit und Entdeckungsdrang erforderlich ist, möchte man tief in die Historie der Gruppe eintauchen. Das bisherige Schaffen der Band weist nämlich einen ausgesprochen weiten Umfang auf und ist dadurch alles andere als leicht überschaubar. Zwanzig (teilweise auch russischsprachige) Alben konnten bei den Recherchen gezählt werden, wozu sich noch etliche Kompilationen, EPs sowie Singles gesellen. Zudem wird das Gewinnen eines vollständigen Überblicks auch noch dadurch zu einer Herausforderung, dass manches Material unter anderen Bandnamen veröffentlicht worden ist.

Aber wie klingen sie nun anno 2022, die kasachischen Recken? Zunächst einmal ist allen Bandmitgliedern zu attestieren, dass sie absolute Meister ihres Faches sind und oft Leistungen vollbringen, die schon an Virtuosität grenzen. Hierbei stehen aber selbst die akrobatischsten Griffbrettzaubereien der Herren an den sechs Saiten klar im Dienst des jeweiligen Songs. Der Melodierausch, in den sie sich dabei häufig spielen, übt dabei eine geradezu euphorisierende Wirkung auf die Hörer aus. Aber nicht nur die Soli, sondern auch die Rhythmusgitarren wissen zu gefallen. Die Riffs sind recht einfach gehalten, setzen sich aber genau dadurch auf prägnant-zackige Weise unglaublich schnell in den Gehörgängen fest. Eine Schlüsselstellung im Bandsound nimmt auch der überdurchschnittlich präsente Bassist ein, der nicht nur zusammen mit dem nach vorne peitschendem Drummer die energiegeladenen Songs mitreißend zum Grooven bringt, sondern mit vielen melodischen Läufen das schmackhafte metallische Menü noch zusätzlich auf raffinierte Weise veredelt. Als Element, das vermutlich am meisten polarisieren dürfte, thront über allem die Gesangsstimme. Alle, die grundsätzlich mit konventionellem Gesang so ihre Probleme haben, stoßen sich vielleicht am ehesten an den durchgängig in hohen Tonlagen vorgetragenen Melodien, wobei es sich empfiehlt, den Songs einige Durchläufe zu gönnen. Spätestens dann kann die Erkenntnis entstehen, dass Leidenschaft einen Namen hat, nämlich Chris Caine. Betont sei, dass dieser heilige Drache am Mikro so gar nichts mit seinen oft operettenhaft agierenden Sangeskollegen aus dem Bereich des Power Metals gemeinsam hat. Denn während diese oft allzu zuckersüß daherkommen, hat Herr Caines einen unnachahmlichen Schmutz und Biss in seiner Stimme und keift die Texte oft mit einer mitreißenden Intensität heraus, als ginge es um sein Leben. In einigen Arrangements und Melodien der Holy Dragons schimmert deutlich hindurch, dass sie schon einmal das eine oder andere Werk von Iron Maiden gehört haben dürften. Allerdings wird über weite Strecken von „Jörmungandr“ erheblich energischer und straighter musiziert, als es bei den Altmeistern aus England der Fall ist. Man könnte für einen kurzen Moment sogar geneigt sein, die Band aufgrund der zwar ähnlichen, aber doch wesentlich zupackenderen Herangehensweise als eine upgedatete Version der eisernen Jungfrauen zu bezeichnen, rückt aber von Hördurchlauf zu Hördurchlauf immer mehr davon ab, weil die Musiker in zu vielen Aspekten der Instrumentierung und des Songaufbaus individuelle Wege beschreiten. Dadurch beweisen sie, dass sie uneingeschränkt eine Klasse für sich sind und den großen Namen der Szene qualitativ mindestens ebenbürtig sind.

Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Es ist bestimmt nicht damit zu rechnen, dass ungeachtet der kaum zu leugnenden Qualitäten das vorliegende Album nun die erste Wahl der ganz orthodoxen Schwarzmetall-Jünger unter uns werden dürfte. Mit einem anerkennenden Kopfnicken oder dezenten Fußtippen kann aber vielleicht doch gerechnet werden, wenn die Holy Dragons mal zufällig aus den Boxen tönen. Und das ist doch auch schon etwas, oder?

PS: Ein Dankeschön gilt dem tollen Schweizer Metal-Sender Radio Drachenblut, denn die Präsentation des Songs „Somebody’s Life“ bildete die Initialzündung, um sich näher mit dem Album der Holy Dragons zu beschäftigen.

Tracklist
1. Vigridr
2. Shadows of the Past
3. Loki
4. The Toothless Wolf
5. Somebody’s Life
6. Heart of Midgard
7. Sinister Piper
8. Personages of a Damned Dream
9. Heading for the Oblivion
10. On My Watch
11. Jörmungandr
12. Idavöllr

Geschrieben von Niklas am 2. Juni 2023