Dornenreich - Du wilde Liebe sei

Dornenreich – Du wilde Liebe sei

Prophecy Productions
2021

Nachdem sich Evíga 2014 nach den nicht mehr ganz so tollen Alben „Flammentriebe“ und „Freiheit“ zurückgezogen hatte (vermutlich, um ein paar Jahre lang meditierend in österreichischen Gebirgswäldern herumzusitzen), war lange unklar, ob der Dornenreich-Mastermind jemals wieder aus der spirituellen Versenkung auftauchen und neue Musik veröffentlichen würde, und falls ja, ob diese an alte Glanztaten anknüpfen könnte. Nun, sieben Jahre später, liegt tatsächlich eine neue Dornenreich-Scheibe vor, und ja: Die lange Pause hat dem Tiroler Trio gutgetan, denn „Du wilde Liebe sei“ ist tatsächlich eines der kreativsten, ungewöhnlichsten und spannendsten Alben der Bandgeschichte. Das liegt vor allem an einer wiedergewonnenen Experimentierfreude: Evíga hat offenbar die letzten Jahre genutzt, um neue Instrumente zu erlernen und geht das Wagnis ein, ein Rock(?)-Album aufzunehmen, das komplett auf Schlagzeug verzichtet und stattdessen mit einem Teppich aus beschwörenden Djemben und Darabukka-Trommeln arbeitet. Entsprechend schwer einzuordnen ist der musikalische Stil. Zu den bereits in den letzten Veröffentlichungen eingeflossenen Flamenco-Spielereien gesellen sich nun verstärkt afrikanische und orientalische Elemente (was sich primär in Ínves phrygischen Geigenmelodien äußert), ohne dabei in allzu offensichtlichen Kulturkitsch abzudriften; halbverzerrte Gitarren geben ein rockiges Flair, ab und an schimmern Überbleibsel aus der Black-Metal-Vergangenheit durch; Evígas Stimmakrobatik hat nach wie vor starken Musiktheater-Charakter, überrascht hier aber durch die ersten Anflüge von melodischem Klargesang, den Dornenreich-Fans seit dem Ausstieg von Valñes schmerzlich vermissen mussten. Der andere Grund für die Stärke dieses Albums sind aber vor allem Produktion, Arrangement und die Art des Spiels: Die langen Tontüfteleien, die in den Liner Notes ausführlich beschrieben werden, haben sich gelohnt, denn nie klangen Dornenreich vielschichtiger, detailverliebter und organischer. Durch die auf- und abwogenden Trommelrhythmen (die teils ohne Metronom auskommen) fließen die Stücke in einem lebendigen, variantenreichen Groove; die geringe Gitarrenverzerrung erlaubt eine große Dynamik, mit der immer wieder Platz für imposante Akustikgitarrenverzierungen und subtile Geigenarrangements eingeräumt wird. Vieles wirkt spontan, teils geschehen Improvisationen, stets gehen alle Instrumente in ihrer Intensität und Geschwindigkeit wohlig kontrastreiche Wechselwirkungen ein, kurz: So viel Live-Anmutung hatten Dornenreich noch nie. Auch textlich gibt‘s natürlich wieder viel zu entdecken: „Du wilde Liebe sei“ ist ein Konzeptalbum über das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsdrang und dem Wunsch nach Verbindung und Zugehörigkeit; wenig überraschend erinnert hier mal wieder manches an Hesse, gelegentlich klingt sogar ein wenig Erich Fromm an; ab und zu wird die Brücke von individuellen psychologischen Betrachtungen zu dezenter Gesellschaftskritik geschlagen. Sprachlich ist hier wie immer alles durchwuchert von überraschenden Satzstrukturen, fantasievollen Neologismen und jenem Maß an Minimalismus, das Dornenreich seit Jahren davor bewahrt, in die Falle von neoromantischem Lyrik-Schwulst zu tappen.

Insgesamt klingt „Du wilde Liebe sei“ nach einer Band, die nach manchen nicht ganz so schlüssigen Arbeiten der Vergangenheit endlich wieder eine klare Richtung, eine deutliche Vision zurückgewonnen hat. Es ist übrigens empfehlenswert sich das Album als limitierte Artbook-Version zuzulegen: Nicht nur, dass sich das 72(!)-seitige Stück mit fantastischen Naturaufnahmen und Liner Notes wirklich gut im CD-Regal macht, auch das Material der Bonus-CD ist – ganz im Gegensatz zu vielen lieblos zusammengewürfelten Special Editions auf dem Markt – wirklich lohnenswert: In einem fast einstündigen Audiokommentar gibt Evíga einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der Stücke und macht auf viele leicht zu überhörende Details aufmerksam. Dazu gibt es wirklich sehr intensive szenische Lesungen der Texte, die von Ínve minimalistisch mit Geigenmotiven der zugehörigen Lieder untermalt werden. Die richtige Musik, um den beginnenden Sommer zu genießen. Gerne auch meditierend in Tiroler Wäldern.

Tracklist
1. So ruf‘ sie wach das Sehnen
2. In Strömen aus Verwandlung ein flackerloses Licht
3. Dein knöchern‘ Kosen
4. Liebes dunkle Nacht
5. Der Freiheit Verlangen nach goldenen Ketten
6. Sie machen Mangel zum Geschenk
7. Das Geheimnis des Quellkosters
8. Das Sehnen von Mond und Sonne
9. Dem Kühnen in der Stille
10. Freiheit erlösen

Tracklist Bonus-CD
1.In tiefem Schweigen
2.Audiokommentare und inszenierte Lesungen

Geschrieben von Philipp am 25. Juli 2021