Lebenssucht - Minus 273,15 °C

Lebenssucht – Minus 273,15 °C

Thanatoskult
2020

Auf das Album „-273,15 °C“ der Band Lebenssucht war ich sehr gespannt, hat doch der Black Metal in weiten Teilen ein echtes Frauenproblem. Zum einen nutzt man die Dame am Mikro und das Black-Metal-Genre gern als bloße Hülle, um derart Aufmerksamkeit zu bekommen, zum anderen beraubt man so manche Fronterin jedweder Weiblichkeit und erwartet abgrundtief bösartige Vocals, wie man sie von der männlichen Zunft her kennt. Lebenssucht wirken hier nicht nur ernsthafter und authentischer als die meisten Genrevertreter, sie gehen noch einen Schritt weiter und vertonen in einem intensiven Seelenstriptease depressivste Momentaufnahmen eines Lebens. Und so viel sei vorweggenommen: Hier sind keine eindimensionalen Spät-Teenager in der Sinnkrise am Werk, hier vertonen gestandene Musiker und eine starke Sängerin die dunkelsten Tage ihres Lebens.

„-273,15 °C“ dürfte nicht nur für Freunde der Tieftemperaturphysik ein spannendes Untersuchungsobjekt sein, so viel verrät auch das Artwork des Albums. Der Titel deutet den absoluten Nullpunkt an, den untersten Wert und Ursprung der Temperaturmessskala und – analog – im Leben eines Menschen den Bodensatz der Depression. In einem wertig aufgemachten Digipak lauert die CD mit sechs teils deutsch-, teils englischsprachigen Songs. Das Artwork ist stimmig, aber wie so vieles im Leben Geschmackssache: Eine blutverschmierte Frau in mehreren Leidensposen auf Eis oder Gras, mal mit einer Plastiktüte über dem Kopf nah dem Erstickungstod, mal mehr oder weniger bei Bewusstsein. Die Darstellung mit geringer Bildauflösung weckt Assoziationen an einen Video Feed oder gar einen Snuff-Film. Manchem mag es zu plakativ und zu wenig assoziativ sein, den Schmerz so stark auf seine physische Komponente zu begrenzen. Lebenssucht sind aber auch instrumental alles andere als verlegen und transportieren diese Direktheit auch musikalisch. Hoch anrechnen muss man der Band außerdem, dass hier alles aus einer Hand kommt und die Fronterin auch für das Artwork posierte und sich für dieses verantwortlich zeichnet.

Das Wichtigste ist und bleibt aber die Musik, denn hier trennt sich die Spreu vom Weizen. „Trauerweide“ ist eine Hass-Liebesschmerz-Ode mit einem textlichen Konzept, das irgendwo zwischen Gedicht und Abschiedsbrief zu verorten ist. Eine interessante Audioproduktion, sehr direkt und dynamisch, ähnlich dem Album „Stellar“ von Der Weg einer Freiheit. Bedrohlich und nahezu manisch baut der Song sich auf, ohne in den ruhigeren Passagen an Intensität zu verlieren. Die Vocals von S Caedes dringen durch Mark und Bein, schreiend, wimmernd und intensiv.

„A Hole in My Heart“ fällt in der textlichen Sinntiefe im Vergleich zu „Trauerweide“ etwas ab, als versuchte die Band hier sehr komplexe Gefühle in einer anderen Sprache auszudrücken. Nichtsdestotrotz kann man sich aber in diesem Song fallen lassen. Die instrumentale Arbeit wie auch die Vocals sind über jeden Zweifel erhaben, der Song groovt und die Riffs lassen der Fronterin und den Backing-Schreien genug Raum zur Eskalation. Kleine, melodisch-instrumentale Verschnaufpausen geben dem Song eine gespenstische Note, bevor ein brachialer Riff den fragilen Frieden zum Einsturz bringt. Toll und intelligent arrangiert.

„Moment of Violence“ scheint die letzten Atemzüge und die letzten Gedanken eines Individuums zu begleiten, und diese scheinen rasend schnell vor dem inneren Auge vorbeizuziehen. Die Drums überschlagen sich nahezu (im übertragenen Sinne, das Drumming von Ahephiam ist arschtight) und die ausgedehnten instrumentalen Eskapaden würden auch jeder Second-Wave-Black-Metal-Band gut zu Gesicht stehen.

Spätestens „Mirrors“ separiert Lebenssucht von den kleinen Mädchen, welche sich mal an Black Metal versuchen wollen, und zeigt eine gestandene Band mit gestandener Frontfrau, mit Schmerz, Seelenqualen und Lebenserfahrung. Der Song wurde vorab mit einer Videoauskopplung bedacht und geht angenehm brutal nach vorne. Auch hier funktioniert das Wechselspiel der vokalen Unterstützung durch die Instrumentalfraktion richtig gut, die Vocals sind aus einem Guss, die Schreie schneidend und reißend und wirklich sehr gut gelungen. Erinnerungen an die mächtigen Dreariness werden wach. Das ist Champions-League-Niveau!

„Nullpunkt“ startet mit einem isolierten Gitarrenriff, aber auch dies ist nur eine zerbrechliche Ruhe vor einem großen, depressiven Gefühlssturm. Die Intensität nimmt durch die wilde, schnelle Instrumentalarbeit und den Wechsel aus leidenden Schreien von S Caedes und den hohen und rauen Backing-Schreien der Instrumentalisten dramatisch zu, bevor der Gipfel des Wahnsinns mit den Zeilen „Meine Seele in Fetzen, doch du siehst mich nicht“ erreicht wird. Der absolute „Nullpunkt“ ist zugleich der Höhepunkt des Albums.

„[-273,15 °C]“ ist der instrumentale Rausschmeißer des Albums und klingt wie eine Spieluhr direkt aus der Hölle: Dämonisch verzerrte Schreie, leidende und manische Stimmen und eine verspielte aber dezente Melodie.

Das Album „-273,15 °C“ ist in seiner Härte und Direktheit eine absolute Wohltat und genau das, was Depressive Suicidal Black Metal ausmacht. Wie eine perfekt geölte Maschinerie des Schmerzes besticht die Band als Einheit und beweist dabei auch Talent im Arrangieren von Songs. Man teilt sich die Vocals dort, wo es Sinn macht die Intensität zu erhöhen, lässt aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass die zerrüttete Seelenwelt in weiten Teilen auch das Zuhause von Sängerin S Caedes ist. Die Band geht in ihrem künstlerischen Ausdruck dabei keine Kompromisse ein, nichts wirkt plakativ, nichts wirkt so, als würden hier Menschen eine Maske tragen. „-273,15 °C“ ist direkt, schmerzvoll, düster, ehrlich und musikalisch vortrefflich gelungen!

Tracklist
1. Trauerweide
2. A Hole in My Heart
3. Moment of Violence
4. Mirrors
5. Nullpunkt
6. [-273,15°C]

Geschrieben von Sascha am 7. April 2020